Ich und die Einheit

Ich, 1990!

Die Frage wird immer im Raum stehen: Was wäre aus mir geworden, wenn die Deutsche Einheit nicht gekommen wäre? Was für ein Mensch wäre ich heute? Hätten sich meine Träume und Wünsche erfüllt, oder hätten sich andere Träume und Wünsche entwickelt?

Ich kann es nicht sagen, denn als ich im September 1990 in die 11. Klasse des neugegründeten Gymnasiums kam, befand sich schon alles im Wandel. Betriebe und Fabriken mussten schließen, meine Eltern verloren beide ihren Arbeitsplatz. Meine Mutter ging mit 53 Jahren ebenfalls nochmal zur Schule und machte eine Umschulung zur EDV-Sachbearbeiterin. Einen Job, den sie nach den drei Jahren Ausbildung für ganze drei Monate innehatte, bevor ihn das Arbeitsamt nicht mehr bezahlte und ihn die nächste geförderte Kandidatin bekam. Mein Vater, der altersbedingt seine Stelle als Fliesenleger vor Jahren hatte aufgegeben müssen, ging wieder auf Baustellen, damit wenigstens einer Geld nach Hause brachte.

Ich wollte nach dem Abitur Grafik-Design studieren und belegte fürs Abitur daher nur Grundkurse in Mathe und Physik. Dass ich letztendlich keinen Studienplatz bekam, weil das ohnehin schwierig ist und zu dieser Zeit nochmal schwieriger war, verbuche ich inzwischen als positiv. Ich wäre wahrscheinlich damit nicht glücklich geworden. So begann ich nach der zwölften Klasse eine Ausbildung zur Druckvorlagenherstellerin, die ich aber weit weg von zuhause machen musste. Denn der Arbeitsmarkt im Osten nach 1990 schrumpfte immer weiter, Jobs und Ausbildungsplätze waren Mangelware. Man benötigte schon sehr gute Beziehungen, um eine Arbeit zu bekommen. Das änderte sich auch nach dem Studium nicht. Zumindest reichten meine Grundkurskenntnisse in Mathe und Physik, um Elektrotechnik zu studieren. Was viel über die Qualität des damaligen Abiturs aussagt, das man uns übrigens damals im Westen nicht anerkennen wollte. Obwohl ich in Thüringen studiert habe, fand ich dort keine Arbeit als Ingenieurin. Wie so vielen blieb mir nur der Weg in den Westen (bzw. Süden).

Wie hat es Peter Richter in seinem Roman »89/90« formuliert: »Wir waren der letzte Jahrgang, der noch alles mitmachen durfte – damals in der DDR. Wir waren aber auch der erste Jahrgang, dem nach der Wende die Welt offen stand – wenn man es zu nutzen wusste.« Fast eine ganze Generation ging fort. Diese Generation könnte heute hier im Land in den Führungspositionen sitzen, wenn man sie gehalten hätte. Nur wenige sind geblieben bzw. zurückgekommen. Unser Landrat zum Beispiel, der machte mit mir Abitur, studierte Volkswirtschaft im Ausland und ist in diesem Jahr zum zweiten Mal als Landrat wiedergewählt worden. Doch das sind Ausnahmen. Die meisten nutzten die Chance, um sich ein fern der Heimat ein Leben und eine Karriere aufzubauen, die sie vor Ort nie erlangt hätten. Heute ist die Stadt voller alter Menschen. Von zehn Bewohnern im Landkreis arbeiten nur noch vier. Eine Zahl die beängstigend aufzeigt, was passiert, wenn man der Jugend im eigenen Land keine Perspektiven bietet.

Was wäre aus mir geworden? Würde ich jetzt mit Kindern und Enkeln im Haus meiner Eltern wohnen? Hätte ich mich von der Partei kaufen lassen, um einen gutgezahlten Posten zu bekommen? Oder wäre ich irgendwann angeeckt und hätte gegen das System aufbegehrt? Niemand weiß es, und das ist auch gut so. Denn letztendlich habe ich der Wiedervereinigung zu verdanken, dass ich gelernt habe, selbstständig zu handeln, eigene Wege zu beschreiten, um für mich herauszufinden, was ich kann und was mir wichtig ist.

Außerdem hätte ich nie meinen lieben Mann kennengelernt. Allein deshalb ist das heute ein guter Tag.

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