Comic-Ersatz

»Das Wilhelm Busch-Album« von Wilhelm Busch

Neben den Märchen der Gebrüder Grimm, gehörten die Bildergeschichten von Wilhelm Busch zu meiner ersten Begegnung mit Literatur. Meine Großmutter mütterlicherseits hat mir immer daraus vorgelesen. Ich erinnere mich, wie mich die Zeichnungen in ihren Bann zogen. Heute würde ich sagen, sie fungierten für mich als eine Art Comic-Ersatz.

Ich wuchs unter Erwachsenen auf. Meine Eltern waren zu alt für Comic-Hefte. Geschwister hatte ich nicht und selbst Cousinen und Cousins gehörten einer anderen Generation an. So gab es bei uns daheim kein »Mosaik« – den Kult-Comic in der DDR.

Die Bildergeschichten von Wilhelm Busch faszinierten mich und ich hielt bei jeder Gelegenheit der Oma das Busch-Album unter die Nase, damit sie mir daraus vorlesen sollte. Es war ein schlichtes Taschenbuch mit grellgrünem Umschlag, in dem die populärsten Geschichten Wilhelm Buschs auf braunem Recyclingpapier abgedruckt waren. Neben der bekannten Bildergeschichte von »Max und Moritz« hörte ich gern von »Plitsch und Plum«, liebte »Hans Huckebein den Unglücksraben«, lachte über den »Bauer und sein Schwein«. Kurzum ich mochte das Buch. So sehr, dass ich es überall mit hinnahm, sogar in den Urlaub.

1980 – im Juni vor meiner Einschulung, ich war gerade sechs geworden – fuhren meine Eltern mit mir ins Vogtland. In dem Ferienheim war ich das einzige Kind, weil noch keine Sommerferien waren. Somit bekam ich die geballte Aufmerksamkeit nicht nur vom Personal, sondern auch von den andern Urlaubsgästen.

Zumeist saß ich mit den Erwachsenen nach dem Abendessen zusammen. Wie das in den Ferienheimen der DDR üblich war. An einem Abend hatte ich mein Busch-Album dabei und verkündete großspurig, dass ich daraus vorlesen wolle. Die Tischnachbarn meinten lächelnd, dass ich doch gar nicht lesen könne, weil ich noch nicht zur Schule ging. Ich war schon als Kind kommunikativ veranlagt und ließ mich nicht davon beirren. Ich schlug eine beliebige Seite auf und begann zu lesen.

Die Anwesenden machten verblüffte Gesichter. Sie fragten sich, wie eine Sechsjährige, die nie eine Schule von innen gesehen hatte, so fließend lesen konnte. Meine Eltern grinsten, weil sie wussten, dass ich die Verse aus dem Buch auswendig konnte. Sie sagten aber nichts und ließen mir meinen kleinen Auftritt.

Ob die Leute später dahinter gekommen sind, dass ich ihnen etwas vorgeflunkert hatte, kann ich nicht sagen. Aber ich kann mich deutlich daran erinnern, wie ich an dem Tisch mit dem weißen Tischtuch sitze, vor mir die Seite mit meiner Lieblingsgeschichte »Die beiden Schwestern«.

Heute bin ich mir sicher, dass das viele Vorlesen aus Büchern wie dem »Wilhelm Busch-Album« meinen Wortschatz vergrößerte und mir geholfen hat, in der Schule schneller Lesen zu lernen.

Übrigens habe ich den Beginn der Geschichte von den beiden Schwestern noch heute im Kopf:

 

»Es waren mal zwei Schwestern,

Ich weiß es noch wie gestern.

Die eine namens Adelheid

war faul und voller Eitelkeit.

Die andre, die hieß Käthchen

und war ein gutes Mädchen …«

 

Manche Dinge vergisst man eben nie mehr.

30 Jahre Mauerfall – Kulmbach Teil 2

Gegen halb sieben kamen wir in Kulmbach an. Es war dunkel, die Stadt schlief noch. Wir suchten einen Parkplatz und warteten bis es hell wurde. Dann erkundeten wir die Stadt. Bei der Kulmbacher Stadtsparkasse nahmen wir mit vielen anderen DDR-Bürgern die 100 DM Begrüßungsgeld in Empfang, die damals alle bekamen. Ein Stempel im Ausweis bezeugte, dass wir das Geld erhalten hatten. Anschließend bummelten wir durch die Fußgängerzone und staunten über das Warenangebot in den Geschäften.

Kulmbach ist bekanntlich die heimliche Hauptstadt des Bieres, weil es dort mehrere Brauereien gibt, damals noch mehr als heute. Daher stand vor der Stadthalle ein großer amerikanischer Truck mit dem Auflieger einer der großen Brauereien. Von dem wurde kostenlos Dosenbier und Gläser an die DDR-Bürger verteilt. In der Stadthalle selbst, fand eine Willkommensveranstaltungen statt, bei der es Essen und Trinken gab.

Als wir völlig überwältig und verwirrt hineingingen, wurden wir sehr herzlich von einem grauhaarigen Mann begrüßt. Der fragte, wo wir herkommen und ob wir schon unser Begrüßungsgeld geholt hätten. Er unterhielt sich eine ganze Weile sehr nett mit uns, und stellte sich schließlich als der Oberbürgermeister von Kulmbach vor. Irgendwie haben wir Eindruck bei ihm hinterlassen, denn er erkannte uns jedes Mal wieder, wenn wir uns Jahre später trafen. Wir pflegten bis zu seinem Tod ein sehr herzliches Verhältnis zueinander.

Vielleicht war er es, der uns den Tipp gab, doch unbedingt mal in den »Meisterkauf«, den größten Supermarkt von Kulmbach zu gehen. Man kann die Eindrücke gar nicht beschreiben, die in einem solchen Markt auf uns DDR-Bürger einprasselten. Das viele bunt, die glänzenden Verpackungen gipfelten in einer totalen Reizüberflutung. Ich bin mir sicher, das viel Leute wieder herauskamen, ohne etwas gekauft zu haben.

Ich habe mir eine Milchschnitte gekauft, weil ich die aus dem Werbefernsehen kannte und unbedingt wissen wollte, wie die schmeckt. Die Enttäuschung war groß, der Riegel hatte kaum Ähnlichkeit mit dem aus der Werbung und geschmeckt hat er mir auch nicht.

Gegen Abend fuhren wir wieder zurück. Ich war um eine Jeans, ein paar weiße Turnschuhe und ganz viele Eindrücke reicher. Als ich später im Bett die Augen schloss, sah ich bunte glitzernde Flecken. Es dauerte noch lange bis sich meine Augen davon erholten.

30 Jahre Mauerfall – Kulmbach Teil 1

Weil die Deutsche Bahn mal wieder baut – das ist inzwischen schon begrüßenswert – war ich auf der Rückfahrt von Thüringen auf einer Umleitungsstrecke unterwegs. Das hieß zwar einmal mehr umsteigen, dafür kam ich seit Langem mal wieder durch Kulmbach und Umgebung.

Die Stadt am weißen Main ist für mich in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Nicht nur, dass sie seit den Achtzigern die Partnerstadt von Saalfeld ist, sondern auch weil ich von 1992 an gute drei Jahre in der Nähe gelebt habe.

Meine erste Begegnung mit Kulmbach war gleichzeitig meine erste Fahrt in den »Westen«. An einem Samstag Ende November 1989, ich musste Samstags nun nicht mehr zur Schule, fuhr ich mit meinen Eltern in den »Westen«. Eigentlich gen Süden, denn die Grenze zu Bayern liegt nur wenige Kilometer südlich meiner Heimatstadt.

Wir waren nicht die einzigen. Ich kann mich an eine scheinbar endlose Autoschlange erinnern, die sich in der Dunkelheit auf den schlechten Straßen Richtung Grenze voranschlängelte. Jede Menge Trabbis und Wartburgs waren am frühen Morgen unterwegs. Die Luft war von blauen Abgaswolken geschwängert.

Weil wir nicht wussten, wie weit es bis Kulmbach ist, fuhren wir schon kurz nach fünf Uhr morgens los. Der Autoatlas der DDR endete an der innerdeutschen Grenze, alles was darüberhinaus ging, war eine grau Fläche. So wussten wir weder wie die Straße verlief, noch wie lange wir unterwegs sein würden. Mein Vater, der die Gegend als junger Mann noch kennengelernt hatte, wusste zumindest noch ein paar Ortsnamen, an denen wir uns orientieren konnten.

Als wir die Grenze passierten, musste wir auf DDR-Seite unsere Ausweise zeigen. Die Beamten auf Bundesdeutschen Gebiet winkten uns einfach durch. Das man im »Westen« war, merkte man sofort. Die Straßen waren viel besser. Es gab keine Schlaglöcher und die Begrenzungspfähle leuchteten wie Christbaumkerzen. Sogar die Linien auf der Straße leuchteten im Licht der Scheinwerfer. Das war für mich unfassbar. Man konnte sehen, wohin man fuhr, jede Kurve war schon weit im Voraus zu erkennen. Selbst im trüben Scheinwerferlicht unseres Trabbis.

Das Auffälligste war aber die Beschilderung. Überall standen gut lesbare Wegweiser an der Straße, die Ortschilder leuchteten weit. Man konnte sich eigentlich nicht verfahren. Die Autoschlange dünnte sich allmählich aus, je weiter wir nach Bayern hereinfuhren. Viele blieben in den ersten Ortschaften stehen, andere bogen Richtung Coburg ab. Wir fuhren weiter durch Kronach und weitere Ortschaften, mit Häusern, deren Fassaden weiß und nicht grau waren. Alles sah viel bunter und freundlicher aus.

… Mehr von meinem ersten Besuch in Kulmbach gibt es morgen.

30 Jahre Mauerfall – Erinnerungen

Wie sehr sich Erinnerungen gleichen, entdeckte ich am Wochenende im aktuellen Amtsblatt meiner Heimatstadt. Dort schrieb der amtierende Landrat in seiner Kolumne über die Grenzöffnung 1989. Landrat Marko Wolfram und ich sind nicht nur ein Jahrgang, wir haben auch gemeinsam das Abitur gemacht und gingen in eine Klasse. Wenn es jemanden gibt, den ich für den Landratsposten geeignet halte, dann ihn.

Er sprach in seiner Kolumne über die Tage Anfang November in der DDR und wie er den Mauerfall erlebt hat. Seine Sicht deckt sich mit meinen Erinnerungen, nämlich, das man als Fünfzehnjähriger die Dimension bzw. die Tragweite eines solchen Ereignisses nicht bemessen kann. Da gibt es zu viele Dinge, die einem in diesem Alter wichtiger erscheinen.

Bei Marko kam noch ein besondere Umtand hinzu. Er lebte im Sperrgebiet, also innerhalb der fünf Kilometerzone zur Grenze. Für DDR-Bürger quasi am »Ende der Welt«. Die Bewohner des Grenzstreifens waren abgeschnitten vom Rest der Republik, konnten sie doch keinerlei Besuch empfangen und mussten durch Personenkontrollen, wenn sie das Gebiet verlassen wollten. Ich hatte eine Brieffreundin in Probstzella, die ich in einem Ferienlager kennengelernt hatte, die ich aber nie besuchen durfte. Der Zugang zum Sperrgebiet war ausschließlich mit Passierschein erlaubt und den bekam man nur in ausgesprochen seltenen Fällen, zum Beispiel wenn man dort arbeitete. Die Grenzöffnung brachte den dort lebenden Menschen Freiheit in mehrfacher Hinsicht.

Aus der Kolumne weiß ich nun zumindest, dass man schon ab 10. November 1989 mit dem Zug nach Bayern fahren konnte, und dies auch viele Saalfelder genutzt haben. Außerdem wurde der Grenzübergang Probstzella doch schon eher freigegeben, als ich in Erinnerung hatte.

Ich hänge Markos Kolumne hier als Bild an. Wer sich für die gesamte Ausgabe des Amtsblattes interessiert kann es unter diesem Link downloaden.

Abschied von Ludwig Große

Pfarrer Große bringt meinen Mann auf den richtigen Pfad

Am Samstag den 16.11.2019 besuchte ich einen Gottesdienst. Ich bin kein großer Kirchgänger, aber der Gedenkgottesdienst für den ehemaligen Superintendent und Pfarrer war für mich ein Pflichttermin.

Es gibt Pfarrer, die sind Pfarrer von Beruf und es gibt Pfarrer, die sind Pfarrer aus Berufung. Zu letzterem gehörte Ludwig Große. Sein Engagement für die Saalfelder Kirchgemeinde und darüber hinaus, wirkt bis heute nach, obwohl er schon lange im Ruhestand war.

Er verstarb am 3. Oktober 2019. Am Samstag wurde sein Wirken in stilvollem Rahmen und in Begleitung vieler Menschen gewürdigt. Somit hat er es nicht nur zu Lebzeiten geschafft, die große Johanneskirche vollzubekommen, sondern auch nach seinem Tod.

14 Pfarrer gaben ihm das letzte Geleit. In der Trauerpredigt wurde vieles aufgezählt, was er in seinem langen Leben getan hat. So blieb er da, wo andere Pfarrer in den Westen abgehauen sind und setzte sich für die Schwachen und die Verfolgten ein. Er bot dem DDR-System die Stirn und verstand es, die Kirchgemeinde in der DDR neben und trotz der Staatsmacht erblühen zu lassen. Er half den Pfarrern im Grenzgebiet ihre Arbeit zu tun und seine systemkritischen Weihnachtsspiele, die er selbst schrieb, waren beliebt, obwohl sie immer am frühen Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags aufgeführt wurden.

Nach der Wende wurde er mit der Einführung des Religionsunterrichts in Thüringen betraut. Etwas, dass er persönlich nicht für gut hieß, denn die Christenlehre und der Konfirmanden-Unterricht außerhalb der Schule hatte sich in der DDR bewährt. Er setzte sich dennoch mit aller Kraft dafür ein und machte die Thüringer Schulen zum Vorreiter des Religionsunterrichts in den neuen Bundesländern.

Als 2010 mein Mann und ich beschlossen zu heiraten, kam für uns eigentlich nur die Saalfelder Johanneskirche in Frage. Pfarrer Ludwig Große war damals schon Ende Siebzig und nicht mehr im aktiven Dienst. Aber er erklärte sich sofort bereit, uns zu trauen. Ich erinnere mich, wie wir zum Traugespräch in seinem Arbeitszimmer in seinem Haus in Bad Blankenburg saßen und plauderten. Er zeigte sich weltoffen und ließ sich von uns über Star Trek aufklären, weil wir in Star Trek-Uniform heiraten wollten. Er hat das sogar in seine Predigt aufgenommen.

Der Trauergottesdienst für ihn am Samstag hätte ihm sicher gefallen. Es wurden seine Lieblingslieder gespielt, die Thüringer Sängerknaben sangen. Neben seiner Familie waren viele Menschen zu seinem Abschied gekommen. Die Sonne schien durch die bunten Fensterscheiben und brach sich an den weißen Wänden der Johanneskirche, für deren Umbau und Restaurierung er damals federführend war. Ein Mamutprojekt, wie so vieles, was er in seinem Leben energisch angepackt hat.

Ich bin sicher, er wird vielen Menschen in positiver Erinnerung bleiben.

Heute vor 30 Jahren …

… bin ich früh zu Bett gegangen, weil am nächsten Morgen eine Klassenarbeit in Mathe anstand. Von der Maueröffnung bekam ich nichts mit. Ich hörte nur am nächsten Tag in der Schule davon und konnte das eigentlich nicht glauben. Erst zuhause, als meine Eltern es mir bestätigen, begann mir zu dämmern, dass da etwas ganz besonderes passiert war.

Wenn man fünfzehn ist, ist Politik undurchschaubar und vor allem langweilig, weshalb ich mir damals auch keine Tagesschau ansah. Dort war um 20 Uhr die Maueröffnung verkündet worden. Wobei es von der DDR-Regierung anders gemeint war, als es die Bevölkerung letztendlich auslegte. Man hatte eigentlich eine ständige Ausreise im Sinn gehabt, damit die Leute nicht mehr über die Nachbarländer flüchten, sondern über die innerdeutschen Grenzübergänge ausreisen konnten. Das jeder beliebig hin- und herreisen würde, war so nicht geplant. Ein Irrtum, der zum Ende der DDR und zur Reisefreiheit von 16 Millionen Menschen führen sollte.

Obwohl wir nah an der Grenze zu Bayern wohnten – von unseren Wochendhaus konnte man sogar hinblicken – war es nicht möglich am Freitag dem 10. November mal schnell nach Probstzella zu fahren und über die Grenze nach Bayern zu marschieren. Es existierten keine Verbindungsstraßen, nicht mal Feldwege. Es musste zunächst der Grenzzaun abgebaut und eine Straße angelegt werden, bevor irgendjemand die Grenze hätte passieren können. Ich weiß allerdings nicht, ob es möglich war, mit dem kleinen Grenzverkehr zu fahren, einem Zug, der zwischen Saalfeld und Kronach fuhr. Es sollte mindestens noch eine Woche dauern, bis der erste Grenzübergang in unserer Nähe für Autos und Fußgänger öffnete.

Von da ab, wurde fast jede Woche ein neuer Übergang mit großem TamTam eröffnet. Ich weiß noch, dass ich mit meinen Eltern jedes Mal von Ost nach West und zurück gelaufen bin. Das waren vor allem für meine Eltern spannende Wanderungen, weil sie die Orte noch aus ihrer Kindheit kannten. Für mich war es in den meisten Fällen enttäuschend, wenn man nach drei bis fünf Kilometern zu Fuß endlich im nächsten Oberfränkischen Dorf ankam, wo es nur ein paar Häuser gab, manchmal nur eine Scheune.

Der 9. November 1989 war ein Donnerstag. Als ich am Samstagmorgen in die Schule kam – wir hatten in der DDR bis Samstagmittag regulären Unterricht – fehlte die Hälfte der Schüler. Vielen waren mit ihren Eltern, manche auf eigene Faust, nach Berlin oder über den Autobahn-Grenzübergang Hirschberg in den Westen gefahren. Am Samstag darauf waren es sogar noch weniger. Der Unterricht fiel aus. Es wurde auf Druck der Eltern vom Ministerium beschlossen, den Samstagsunterricht für die nächsten Wochen auszusetzen, dafür sollten wir den Stoff in den Ferien nachholen müssen. Nur so viel: Ich habe nie wieder Samstags in die Schule gegen müssen und ich musste auch keine einzige Stunde nachholen, obwohl ich in die 10. Klasse ging und damit kurz vorm Abschluss stand. Wie ich dann noch zwei Jahre Abitur drangehängt habe, ist eine andere Geschichte.

Es zeigt welche chaotischen Verhältnisse nach der Maueröffnung in der DDR herrschten. Der Unterrichtsausfall am Samstag sollte erst der Anfang der Anarchie sein.

Tage im Oktober ´89

Wenn ich heute zurückblicke, erkenne ich, dass sich der Fall der Mauer schon Wochen zuvor abzeichnete. Eigentlich schon Monate vorher. Die Stimmung im Land veränderte sich, viele flüchteten über Ungarn oder die Tschechei. Unteranderem ein junges Paar mit Kindern, die bei uns zur Miete gewohnt hatten. Die Wohnung stand inzwischen leer, weil nachdem die Stasi alles untersucht hatte, die Eltern des Pärchens alles ausgeräumt hatten.

Was sich in der DDR in diesen Oktober-Tagen tat, kann ich heute besser beurteilen als damals. Denn im Oktober 1989 stand für mich persönlich ein anderes Ereignis im Vordergrund. Ich hatte mich das erste Mal verliebt. Da ist man ohnehin nicht ganz zurechnungsfähig. Man kann also sagen, dass ich zu der Zeit alles andere im Kopf hatte, als Politik.

Selbstverständlich aber kann ich mich an den Rücktritt Honeckers und an die Montagsdemos erinnern, die durch unsere Straße führten. An einem der Montage waren meine Eltern nicht da und ich hielt mich bei unseren Mietern im Vorderhaus auf, als der Demonstrationszug vorbeikam. Ich blickte aus dem Fenster und sah die vielen Menschen, die sich dicht gedrängt die breite Straße entlang schoben. Manche trugen große Transparente, andere hielten Plakate hoch, wieder andere hielten Kerzen oder Fackeln in Händen. Sie riefen »Wir sind das Volk« oder »Die Mauer muss weg«. Und sie riefen zu uns hoch, wir sollten runterkommen und uns anschließen. In dem Moment bekam ich echt Angst.

Die Stimmung war völlig anders, als bei den Demonstration zum 1. Mai, die ich kannte. Zum einen führte der Weg der Demonstranten nicht über den Marktplatz, sondern direkt von der Johanniskirche an unserem Haus vorbei bis zur Polizei, wo sich das Pass- und Meldeamt befand. Außerdem fanden die Demos am 1. Mai im Hellen statt, jetzt war es dunkel und irgendwie bedrohlich. Ich fragte mich, ob die Leute hochkommen und uns holen würden, wenn wir der Aufforderung nicht Folge leisten würden. Denn wie in der DDR üblich, war unsere Haustüre nicht abgeschlossen. Andererseits hatte ich Angst, was passieren würde, wenn ich mitgehen würde. Würde man mich einsperren? Würde die Polizei die Demonstration gewaltsam auflösen? Oder bekäme ich Ärger in der Schule? Oder viel schlimmer, bekämen meine Eltern Ärger? Für eine 15-jährige war eine solche Situation in vielerlei Hinsicht beängstigend.

Fakt ist, unsere Mieterin war schlecht zu Fuß und hätte nicht ohne weiteres die Treppe aus dem zweiten Stock heruntergehen können. Aber ihr Mann zog sich an und ging mit. Ich blieb, ging aber vom Fenster weg, denn ich hatte vor allem eines – Angst.

Der stille Kosmonaut

Eigentlich wollte ich heute etwas Nettes schreiben. Nun wird es doch wieder ein Nachruf.

Am Samstag starb der erste Deutsche im All – Sigmund Jähn.

Für uns Schulkinder in der DDR war er ein Held. Überhaupt galten damals alle Kosmonauten als Held. Schulen wurden nach ihnen benannt sowie Straßen und Plätze. Im Grunde waren sie Helden, denn sie wagten sich dorthin, wo das Leben an seine Grenze stößt. Und das in Raketen, die weit weniger sicher waren, als man uns vorgaukelte. Doch nach der Wende wurde sie, wie der Rest der DDR-Elite fallengelassen. Sigmund Jähn war immer noch der erste Deutsche im All, bloß wollten weder die Medien, noch unsere Regierung diese Leistung anerkennen und das nur, weil er Bürger des sozialistischen Deutschlands gewesen war. Es war Ulf Merbold, der erste Bundesdeutsche Astronaut, der versuchte ihn zu rehabilitieren, denn auch Merbold stammt eigentlich aus dem Osten.

Das Bild von Sigmund Jähn in meinem Kopf, wird immer das eines lächelnden stillen Mannes sein. Der es ertrug, dass man ihn hintenan stellte, dass man seine Leistungen nicht oder nicht in dem Maße würdigte, wie er es verdient hätte. Die Ostdeutschen verlieren mit ihm eines ihrer größten Idole, das gleichzeitig Sinnbild dafür ist, was die Wende für die Menschen im Osten auch bedeutete – Zurückweisung, Misstrauen und Verurteilung.

Ich hoffe, er hat auf seinem Weg zu den Sternen nun endlich Frieden gefunden. Ad Astra!

Brückenschlag

Fußgängerbrücke der Superlative

Ich war am Wochenende mal wieder daheim in Thüringen. In den vergangenen 30 Jahren nach der Wende hat sich vieles in und um die Stadt verändert, das meiste zum Besseren. Es wurde viel Geld in die Hand genommen, um Denkmäler und Straßen zu sanieren oder um neue Gewerbegebiete und Siedlungen zu bauen.

Nicht alles, was dabei entstanden ist, begeistert mich. Vieles hätte man anders und besser machen können. Vor allem hätte man mehr für die Geschäfte in der Innenstadt tun müssen und dafür weniger Flächen an den Stadträndern zubetonieren dürfen. Aber das ist bekanntlich in fast jeder deutschen Stadt ein Problem.

Bei einigen Projekten haben die Stadtoberen aber übers Ziel hinausgeschossen. So bei der zweifelhaften Sanierung des Marktplatzes, bei dem man nicht nur das bestehende antike Kopfsteinpflaster durch Pflaster aus Vietnam ausgetauscht hat, sondern auch gleich mal die alten Linden gefällt und anschließend für teures Geld neue gesetzt hat. Die zweihundertjährige Linde vor der Kirche wurde gefällt, weil sie angeblich morsch war, was aber nicht bewiesen werden konnte, weil der Baum in einer Nacht und Nebelaktion gefällt und weggebracht wurde. Später wurde dann argumentiert, die Linde hätte dem Umbau des Platzes vor der Kirche im Weg gestanden. Der Umbau lässt allerdings seit Jahren auf sich warten.

Auf sich warten lassen hat auch der sogenannte »Zeiss-Steg«. Eine Fußgängerbrücke, die über die Saale führte und die in der frühen DDR errichtet wurde, damit die Leute schneller zur Arbeit ins Zeisswerk kamen, ohne dafür den Umweg über die große Saalebrücke zu nehmen. Die einfache Betonbrücke war über die Jahrzehnte marode geworden und wurde vor ein paar Jahren weggerissen. Seitdem baut die Stadt an einem Ersatzbau. Jahrelang bewegte sich nicht viel. Es hieß, dass die neuen Fundamente nicht passten und wieder abgerissen werden mussten. Wie das eben so ist.

Jedenfalls konnte ich am Wochenende, die nun fast fertige Brücke endlich besichtigen. Ganz ehrlich, ich dachte, ich sehe nicht richtig. Statt eines einfachen Fußgängerstegs, den man mit schlichten Betonteilen relativ einfach und unkompliziert hätte setzen können. (Funktioniert bei jeder Eisen- und Autobahnbrücke) starrte mir ein monströses Designobjekt entgegen. Mit Tragseilen und gebogener »Fahrbahn«.

Echt jetzt, musste das sein. Das Ding hat sicher Millionen verschlungen. Millionen, die in sozialen Projekten oder bei der Sanierung einiger Seitenstraßen sicher besser aufgehoben wären, als in einer  Miniausgabe der Golden Gate Bridge. Ich frage mich, was die Mitglieder des Stadtrats geritten hat, so einem Projekt zuzustimmen.

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, wurde jetzt daneben noch das Saalewehr aufgerissen. Dort sieht es aus, als wolle man den halben Fluss ausbaggern. Begründung, die Fische kämen nicht über das Wehr. Dabei wurde dort Ende der Neunziger für viel Geld eine Fischtreppe errichtet.

Als ehemalige Bewohnerin kann ich darüber nur den Kopf schütteln und mich fragen, ob wir momentan keine dringenderen Probleme haben und Steuergelder nicht besser angelegt werden können.

Bilderfluten

Am Wochenende hatte ich wegen des Regenwetters Zeit, die Fotos einzusortieren, die schon seit Monaten herum lagen. Dabei wurde mir bewusst, dass mein Leben ziemlich gut dokumentiert ist.

Mein Vater hat immer gern und viel fotografiert. Es gibt beinahe aus jedem meiner Lebensmonate ein oder mehrere Bilder. Obwohl das in der DDR teuer war und man ewig warten musste, bis man seine Bilder oder Dias wieder beim Fotografen abholen konnte. Besonders lange dauerten Farbfotos. Da wartete man schon mal bis zu sechs Monate, um dann vielleicht herauszufinden, dass das Bild gar nichts geworden ist. Heute in Zeiten der digitalen Fotografie unvorstellbar.

Nun, jedenfalls habe ich die Leidenschaft am Fotografieren geerbt. Als ich alt genug war, schenkten mir meine Eltern eine analoge Spiegelreflexkamera, von da ab fügte ich der ohnehin schon großen Foto- und Dia-Sammlung meiner Eltern weitere Alben mit Fotos hinzu.

Später kaufte ich mir diverse Digitalkameras. Weil ich aber Spaß an gedruckten Fotos habe, die man in die Hand nehmen und anschauen kann, lasse ich immer von den gelungensten Bildern Abzüge machen. Auch das hat die Bilderflut wachsen lassen. Eine Zeit lang habe ich es mit digitalen Fotorahmen versucht, in die man nur die Speicherkarte einlegen muss. Trotzdem ist das nicht dasselbe, wie ein richtiges Bild in der Hand zu halten.

Inzwischen bin ich dazu übergangenen, Fotobücher zu gestalten, die schaut man gern an und die nehmen nicht ganz so viel Platz im Schrank ein, wie ein Fotoalbum. Seien wir ehrlich, jeden Tag schießen Millionen von Menschen, Milliarden von Fotos. Die meisten davon bleiben in den Speichern der Smartphones oder auf den Festplatten der Computer und werden im Zweifelsfall nie wieder angesehen. Ich finde das schade, denn es gibt so viele Momente, an die man sich erst wieder erinnert, wen man ein Foto davon in der Hand hält.