Heute vor 30 Jahren …

… bin ich früh zu Bett gegangen, weil am nächsten Morgen eine Klassenarbeit in Mathe anstand. Von der Maueröffnung bekam ich nichts mit. Ich hörte nur am nächsten Tag in der Schule davon und konnte das eigentlich nicht glauben. Erst zuhause, als meine Eltern es mir bestätigen, begann mir zu dämmern, dass da etwas ganz besonderes passiert war.

Wenn man fünfzehn ist, ist Politik undurchschaubar und vor allem langweilig, weshalb ich mir damals auch keine Tagesschau ansah. Dort war um 20 Uhr die Maueröffnung verkündet worden. Wobei es von der DDR-Regierung anders gemeint war, als es die Bevölkerung letztendlich auslegte. Man hatte eigentlich eine ständige Ausreise im Sinn gehabt, damit die Leute nicht mehr über die Nachbarländer flüchten, sondern über die innerdeutschen Grenzübergänge ausreisen konnten. Das jeder beliebig hin- und herreisen würde, war so nicht geplant. Ein Irrtum, der zum Ende der DDR und zur Reisefreiheit von 16 Millionen Menschen führen sollte.

Obwohl wir nah an der Grenze zu Bayern wohnten – von unseren Wochendhaus konnte man sogar hinblicken – war es nicht möglich am Freitag dem 10. November mal schnell nach Probstzella zu fahren und über die Grenze nach Bayern zu marschieren. Es existierten keine Verbindungsstraßen, nicht mal Feldwege. Es musste zunächst der Grenzzaun abgebaut und eine Straße angelegt werden, bevor irgendjemand die Grenze hätte passieren können. Ich weiß allerdings nicht, ob es möglich war, mit dem kleinen Grenzverkehr zu fahren, einem Zug, der zwischen Saalfeld und Kronach fuhr. Es sollte mindestens noch eine Woche dauern, bis der erste Grenzübergang in unserer Nähe für Autos und Fußgänger öffnete.

Von da ab, wurde fast jede Woche ein neuer Übergang mit großem TamTam eröffnet. Ich weiß noch, dass ich mit meinen Eltern jedes Mal von Ost nach West und zurück gelaufen bin. Das waren vor allem für meine Eltern spannende Wanderungen, weil sie die Orte noch aus ihrer Kindheit kannten. Für mich war es in den meisten Fällen enttäuschend, wenn man nach drei bis fünf Kilometern zu Fuß endlich im nächsten Oberfränkischen Dorf ankam, wo es nur ein paar Häuser gab, manchmal nur eine Scheune.

Der 9. November 1989 war ein Donnerstag. Als ich am Samstagmorgen in die Schule kam – wir hatten in der DDR bis Samstagmittag regulären Unterricht – fehlte die Hälfte der Schüler. Vielen waren mit ihren Eltern, manche auf eigene Faust, nach Berlin oder über den Autobahn-Grenzübergang Hirschberg in den Westen gefahren. Am Samstag darauf waren es sogar noch weniger. Der Unterricht fiel aus. Es wurde auf Druck der Eltern vom Ministerium beschlossen, den Samstagsunterricht für die nächsten Wochen auszusetzen, dafür sollten wir den Stoff in den Ferien nachholen müssen. Nur so viel: Ich habe nie wieder Samstags in die Schule gegen müssen und ich musste auch keine einzige Stunde nachholen, obwohl ich in die 10. Klasse ging und damit kurz vorm Abschluss stand. Wie ich dann noch zwei Jahre Abitur drangehängt habe, ist eine andere Geschichte.

Es zeigt welche chaotischen Verhältnisse nach der Maueröffnung in der DDR herrschten. Der Unterrichtsausfall am Samstag sollte erst der Anfang der Anarchie sein.

Tage im Oktober ´89

Wenn ich heute zurückblicke, erkenne ich, dass sich der Fall der Mauer schon Wochen zuvor abzeichnete. Eigentlich schon Monate vorher. Die Stimmung im Land veränderte sich, viele flüchteten über Ungarn oder die Tschechei. Unteranderem ein junges Paar mit Kindern, die bei uns zur Miete gewohnt hatten. Die Wohnung stand inzwischen leer, weil nachdem die Stasi alles untersucht hatte, die Eltern des Pärchens alles ausgeräumt hatten.

Was sich in der DDR in diesen Oktober-Tagen tat, kann ich heute besser beurteilen als damals. Denn im Oktober 1989 stand für mich persönlich ein anderes Ereignis im Vordergrund. Ich hatte mich das erste Mal verliebt. Da ist man ohnehin nicht ganz zurechnungsfähig. Man kann also sagen, dass ich zu der Zeit alles andere im Kopf hatte, als Politik.

Selbstverständlich aber kann ich mich an den Rücktritt Honeckers und an die Montagsdemos erinnern, die durch unsere Straße führten. An einem der Montage waren meine Eltern nicht da und ich hielt mich bei unseren Mietern im Vorderhaus auf, als der Demonstrationszug vorbeikam. Ich blickte aus dem Fenster und sah die vielen Menschen, die sich dicht gedrängt die breite Straße entlang schoben. Manche trugen große Transparente, andere hielten Plakate hoch, wieder andere hielten Kerzen oder Fackeln in Händen. Sie riefen »Wir sind das Volk« oder »Die Mauer muss weg«. Und sie riefen zu uns hoch, wir sollten runterkommen und uns anschließen. In dem Moment bekam ich echt Angst.

Die Stimmung war völlig anders, als bei den Demonstration zum 1. Mai, die ich kannte. Zum einen führte der Weg der Demonstranten nicht über den Marktplatz, sondern direkt von der Johanniskirche an unserem Haus vorbei bis zur Polizei, wo sich das Pass- und Meldeamt befand. Außerdem fanden die Demos am 1. Mai im Hellen statt, jetzt war es dunkel und irgendwie bedrohlich. Ich fragte mich, ob die Leute hochkommen und uns holen würden, wenn wir der Aufforderung nicht Folge leisten würden. Denn wie in der DDR üblich, war unsere Haustüre nicht abgeschlossen. Andererseits hatte ich Angst, was passieren würde, wenn ich mitgehen würde. Würde man mich einsperren? Würde die Polizei die Demonstration gewaltsam auflösen? Oder bekäme ich Ärger in der Schule? Oder viel schlimmer, bekämen meine Eltern Ärger? Für eine 15-jährige war eine solche Situation in vielerlei Hinsicht beängstigend.

Fakt ist, unsere Mieterin war schlecht zu Fuß und hätte nicht ohne weiteres die Treppe aus dem zweiten Stock heruntergehen können. Aber ihr Mann zog sich an und ging mit. Ich blieb, ging aber vom Fenster weg, denn ich hatte vor allem eines – Angst.