Es ist ein seltsames Gefühl. Ein bisschen so, als existiere eine zweite Vergangenheit hinter meiner, wie eine Parallelwelt, die unerreichbar zur eigenen verlief.
1980 gründeten drei Jugendliche, nur 70 Kilometer von mir entfernt, die Punkband Schleimkeim, die zur bekanntesten und beliebtesten Punkband der DDR werden sollte. Ich ging damals in die erste Klasse und hatte von Punk und anderen Subkulturen nie gehört und auch später zog das irgendwie an mir vorüber. Dabei ist die Geschichte jener Band und ihres Gründers spannender als jeder Krimi.
Dieter Ehrlich – von allen nur Otze genannt – war jemand, den man durchaus als echten Punk bezeichnen kann. Er lebte das, wofür Punk steht: nicht arbeiten gehen, dafür saufen, jede Menge Blödsinn anstellen und Musik machen. Auch vom Charakter her war er alles andere als ein Engel, eher das Gegenteil. Wie er selbst immer behauptet hat, stand er mit Satan im Bunde. Dennoch war er eine Persönlichkeit, die von Freunden und Feinden gleichermaßen bewundert und respektiert wurde. Den Erzählungen seiner Mitmenschen nach, war er ein begnadeter Musiker, der mit einem Minimum an Equipment ein maximales Ergebnis erzielte. Er verfasste geniale Texte, obwohl er kaum richtig schreiben konnte. Er nahm sich aber auch, was er wollte, manchmal mit Verschlagenheit und sehr oft mit Gewalt. Er war der Star unter den Punkrockern der DDR und hatte viele Fans. Dabei blieb er dem Motto des Punk treu, in dem er nie Gewinn daraus geschlagen hat. Ruhm war ihm nicht wichtig, für ihn zählte, dass seine Musik gehört wurde. Er liebe es, Geschichten über sich zu erzählen, die meist nur ein Körnchen Wahrheit enthielten. Keiner schien den Menschen Otze Ehrlich wirklich zu kennen, weil er jedem eine andere Geschichte auftischte. Er blieb bis zum Schluss undurchschaubar, verlor sich in Drogen und Gewalt und wurde zu einem der vielen Genies, die dem Wahnsinn erlegen sind.
In der Biografie »Satan, kannst du mir noch mal verzeihen« kommen Bandmitglieder, Freunde und Weggefährten zu Wort. Menschen, die ihn mal mehr und mal weniger gut kannten. Besonders faszinierend daran ist, dass jeder der Befragten ein eigenes Bild von Dieter Ehrlich zeichnet. Manches deckt sich, anderes wiederum klingt, als würden es sich um unterschiedliche Menschen handeln. Diese persönlichen Berichte, verknüpft mit Auszügen aus Interviews und Stasi-Dokumenten machen aus dieser Biografie viel mehr. Das Buch bildet einen Teil der DDR-Vergangenheit ab, den ich so nicht kannte, der aber ungemein spannend ist.
Ich habe in den Tagen, in denen ich das Buch gelesen habe, regelrecht jede Seite verschlungen, jede noch so winzige Information aufgesaugt, um die Lücke in meinem Wissen über die Subkulturen in der DDR zu schließen. Man bekommt nur sehr selten die Gelegenheit, die eigene Vergangenheit mit völlig anderen Augen zu sehen. Das ist ein sehr merkwürdiges, aber auch ein ergreifendes Gefühl. Wenn man den Namen seiner Heimatstadt liest und von Veranstaltungen hört, die dort stattgefunden haben, ohne das man etwas davon mitbekommen hat. Leider war ich noch zu jung, um das miterleben zu können oder um es zu begreifen. (Ich habe auch erst sehr viel später begriffen, welches geschichtliche Ausmaß der Mauerfall 1989 hatte. Mit Fünfzehn hat man andere Dinge im Kopf, als die Bedeutung eines Gesellschaftlichen Umsturzes.)
So gingen mit dem Punk in Thüringen auch die genialen Songs von Schleimkeim an mir vorbei. Doch für Musik ist es ja bekanntlich nie zu spät und so höre ich schon seit Wochen Songs wie »Prügelknabe«, »Kriege machen Menschen« und »Geldschein« und bin genauso fasziniert, wie die Jugendlichen von damals. Dank des Buches weiß ich nun auch, wie das so war, mit Otze und den anderen Mitgliedern von Schleimkeim. Da bekommen die Lieder noch mal eine ganz andere Bedeutung.
Das 175 Seiten starke Buch bietet neben Texten auch eine große Anzahl von Fotos, von denen ein Großteil aus den Archiven der BStU stammt. (Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen) Ich stelle mir gerade vor, ohne die Stasi wäre vieles undokumentiert geblieben, andererseits hätte es die damalige Punkszene leichter gehabt.
Ein Satz von Otze Ehrlich aus dem Buch geht mir seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf. »Um unser Leben brauchten wir in der DDR nicht zu fürchten!« Es zeigt, dass der Zusammenbruch der DDR und der plötzliche Wegfall des Feindbildes einem Punk wie Otze schwer zu schaffen gemacht hat, ebenso wie die Drogen, die nach der Wende Ostdeutschland überschwemmten. Sicher sind das die Gründe, an denen er zerbrochen ist.
Dieter Ehrlich starb 2005 mit 41 Jahren in einer forensischen Klink, in der er »aufbewahrt« wurde, nachdem er 1998 im Drogenrausch seinen Vater mit einer Axt erschlagen hatte. Mit der Musik hat er sich selbst unsterblich gemacht. Sie fasziniert – auch noch mehr als dreißig Jahre später, getreu seinem Wahlspruch: »Alles wird sterben, alles wird vergehen, nur Punk und SK (Schleimkeim) werden bestehen.«
Wer sich die Musik von Schleimkeim anhören möchte, findet bei YouTube jede Menge Aufnahmen.
Das Buch »Satan, kannst du mir noch mal verzeihen« herausgegeben von Anne Hahn und Frank Willmann erschien bereits 2008 im Ventil-Verlag und ist dort noch erhältlich. Pflichtliteratur für jeden der etwas über Punks im Osten wissen will.
Ein sehr interessanter Beitrag von Ihnen aus ganz persönlicher Sicht. Mir, Jahrgang 1972, geht es ähnlich wie Ihnen: Ich habe zu DDR-Zeiten von Schleim-Keim nichts mitbekommen, war aber ohnehin auch kein Punkfan.
Jetzt ist ein Film über das Leben von Dieter „Otze“ Ehrlich und die Geschichte der Band in die Kinos gekommen: »SCHLEIMKEIM – Otze und die DDR von unten«. Es kommen zahlreiche Zeitzeugen zu Wort. Hier der Trailer:
https://www.youtube.com/watch?v=pWt0Cp5LglA
Ich habe ihn vorgestern in Potsdam gesehen, der Regisseur Jan Heck, ein junger Mann (*1992) aus dem Westen, war auch anwesend. Vielleicht läuft der Film ja auch bei Ihnen in der Nähe. Absolut Lohnenswert!
Und hier noch ein Artikel in der Märkischen Allgemeinen Zeitung über den Filmabend im Thalia-Kino:
https://www.maz-online.de/lokales/potsdam/schleimkeim-otze-und-die-ddr-von-unten-jan-heck-im-thalia-potsdam-RRIXJPFHGBESDK3X5PUZFNW3GA.html