Leck mich am Leben

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Hrgb. Frank Willmann, Leck mich am Leben – Punk im Osten, erschienen im Verlag Neues Leben

„Geschichten zum Punk zwischen Suhl und Sassnitz, zwischen Warschau und Budapest“ – betitelt sich das Buch, das ich mir in den letzten Tagen „reingezogen“ habe, oder besser, das mich eingesaugt hat. Denn es eröffnete mir ein völlig unbekanntes Kapitel einer Vergangenheit, die eigentlich meine sein müsste, aber nicht ist. Schon der Umschlagtext liest sich spannend: … 32 Autoren erzählen von einer „ganzheitlich distanzieren Generation“ und einem „politischen Phänomen vor popkulturellem Hintergrund“. Und von Spaß, Rebellion und Lebenshunger. Von Wut und Provokation. Von Musik, Partys und den anderen Bands. Von Typen und Exoten und davon, was den braven Bürger auf die Palme brachte. Und die Sicherheitsorgane auf den Plan rief. …

Die unterhaltsame Sammlung von Beiträgen zur Punk-Szene in der DDR und den Ostblockstaaten, war für mich ein Quell an Informationen, erschütterte aber auch meine beschränkte Sichtweise auf einen Staat, der fünfzehn Jahre lang auch meine Heimat war und über den ich weit weniger weiß, als ich bisher dachte.

Die Beiträge reichen von Berichten und sozialwissenschaftlichen Abhandlungen über Gedichte bis hin zu kleinen Geschichten, bei denen der Wahrheitsgehalt nur schwer zu fassen ist. Doch wenn mir, wie bei „Uhrwerk Mensch“ von Anne Hahn kurz vorm Finale die Tränen in den Augen stehen, sodass ich das Buch in der S-Bahn verschämt zur Seite legen muss, spielt das für mich keine Rolle mehr. Auch Veit Pätzugs „Moses und The Fickschnitzels“ und Michael Kröcherts „Nachrichten von neuen Sternen“ haben mich ähnlich emotional kompromittiert. Bei Jörg Dietrichs „Das ist Punk, Alter!“ – eine Geschichte über einen Querschnittsgelähmten Punker, dessen Freunde alles tun, damit er weiterhin am Leben teilnehmen kann – musste ich oft schmunzeln, obwohl das angesichts des ernsten Themas eigentlich nicht zum lachen sein sollte. Erfrischend fand ich die Erzählung von Jan Off – „Zonenrand- Schlaraffenland: 0:6“- in dem er die Sichtweise eines westdeutschen Punks auf die ihm unbekannte Ostdeutsche Punkszene beschreibt, die seine Vorurteile sehr schnell ab Absurdum führt. Erwähnenswert sind auch die Auszüge aus dem unveröffentlichten Roman: „Am Ende warn wir schon“ von Ole Giec. Den würde ich gern mal lesen, sollte er irgendwann veröffentlicht werden.

Man erfährt auch von Persönlichkeiten der ostdeutschen Punkszene, die sich nicht nur über Musik, sondern auch sehr oft über Kunst definiert hat. Namen wie „Matthias“ BAADER Holst und Katarina Gajdukowa waren mir bis zu diesem Zeitpunkt fremd.

Die vielen Schicksale über die in „Leck mich am Leben“ gesprochen wird, zusammen mit den Informationen rund um die Szene und ihrem beständigen Kampf gegen ein totalitäres Regime, das keine Abweichung von der Norm akzeptierte, hat mir eine andere DDR gezeigt, als die, die ich kennengelernt habe. So gelange ich zu der Ansicht, das Punksein im Osten weit mehr bedeutete und viel mehr Mut erforderte, als es sich die „No future“- Generation aus dem Westen überhaupt vorstellen kann.

Das 270 Seiten umfassende Buch ist mit vielen aussagekräftigen S/W-Fotos illustriert, zu denen es leider keine Bildunterschriften gibt. Schade, da hätte ich dann doch gern erfahren, wo und wann die Aufnahmen entstanden.

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