FBI Zentrale Washington DC, 19 Uhr

„Was ist so wichtig daran, daß wir die Metro nehmen?“ fragte Scully genervt, als sie das Gebäude verließen und dem Metro Center entgegen strebten.
„Sie werden schon sehen.“ Mulder tat übertrieben geheimnisvoll.
Scully rollte mit den Augen, sagte aber nichts.
Wenige Minuten später nahmen sie die Rolltreppe zum Metro Center.
„Aber Sie bezahlen die Tickets.“ Scullys Finger deuteten in einer drohenden Geste auf Mulder.
Er zog sein Lächeln in die Breite und antwortete: „Das ist es mir Wert.“ Dann nahm er die letzten Stufen der Rolltreppe mit großen Schritten und eilte voran zum Ticketautomaten. Seine Partnerin folgte widerstrebend. Sie mochte die Washingtoner Metro nicht. Mal davon abgesehen das sie überhaupt keine Züge mochte, die unter Metern von Gesteinsschichten verkehrten. Sie blieb an der Eingangssperre stehen und beobachtete Mulder, der seine Manteltaschen nach Kleingeld durchstöberte. Schließlich drehte er sich Hilfe suchend nach ihr um.
„Oh, nein!“ machte sie und schüttelte den Kopf. „Das war ihre Idee.“
Mulder seufzte, zog einen zehn Dollarschein aus der Geldbörse und schob ihn in den Automaten.
Scully wandte sich ab und beobachtete die Menschen die sich in die Ein- und Ausgangssperren klemmten, ihr Ticket einschoben und geduldig warteten bis sich die in Hüfthöhe angebrachten Plexiglas Sperren zur Seite schoben. Mulder hielt ihr plötzlich das Ticket vor die Nase. Sie ergriff es mit einer hastigen und genervten Geste, die genau ausdrückte, was sie über Mulders Idee dachte. Artig befolgte sie die Instruktionen, schob das Ticket in den Schlitz der Eingangssperre, ging hindurch als sie sich öffnete und nahm an der anderen Seite das Ticket wieder entgegen. Wobei sie sich fragte, welche Transportmechanismen notwendig waren, um das Ticket von einem Ende zum anderen zu befördern.
Mulder folgte ihr, blieb jedoch in der Schleuse stecken.
Scully seufzte und machte ihm anhand ihres Tickets klar, daß er seines falsch eingesteckt hatte. Nach zwei weiteren Versuchen gelang es ihm dann endlich die Sperrvorrichtung zu überwinden.
„Wir müssen die rote Linie nehmen!“ erklärte er und stürmte voran.
Sie überquerten Betonstufen und ausladend abgerundete Betonbrücken welche die Gleisanlagen überspannten. Über allem wölbte sich eine gigantische Halbröhre in die lauter Badewannen eingelassen zu sein schienen. Hier kam sich Scully immer vor wie in einem schlechten Science Fiction Film. Alles war grau bis auf den Boden und der war schon fast als klinisch sauber zu bezeichnen. Kein Fleck, kein Schnipsel Papier störte die Monotonie der rotbraunen Wabenkacheln. Indirektes Licht kroch aus Spalten irgendwo am Fuß der Seitenwände und beleuchtete das Deckengewölbe. Scully fröstelte. Hier war es nicht kalt, aber allein das Ambiente ließ einem das Blut in den Adern gefrieren. Der silberfarbene Zug der gerade auf der anderen Seite einfuhr, trug nicht viel dazu bei, daß zu ändern. Sie sah zur Seite. Mulder hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt und betrachtete staunend das Deckengewölbe.
„Zählen Sie Badewannen?“ fragte Scully spitz.
Ihr Partner senkte den Kopf und strahlte sie an: „Badewannen?!“
„Na, Sie müssen doch zugeben, das die Deckenstruktur dem nicht unähnlich ist.“
Mulder richtete seinen Blick kurz nach oben. „Sie haben recht. Aber ist es nicht beeindruckend?!“
Scully murmelte etwas unverständliches und Mulder reagierte darauf mit einem euphorischen: „Das ist die Zukunft, Scully.“
„Vielleicht Ihre Zukunft. Nicht meine!“
Mulder setzte zu einer Erwiderung an, doch die in der Bahnsteigkante eingelassenen Leuchten begannen zu blinken, was darauf hindeutete, daß der Zug jeden Moment einfuhr. Beide begaben sich näher zum Bahnsteigrand. Mulder setzte seinen Fuß auf die Plexiglasscheibe, die die Leuchte am Boden schützte und prüfte ihre Festigkeit. Von seiner Partnerin bekam er dafür einen ermahnenden Blick zugeworfen.
Als der Zug herankam, unglaublich schnell und leise, las Scully das Richtungsschild „Shady Grove“. „Was wollen wir in Shady Grove.“ fragte sie.
Er schüttelte den Kopf und erklärte geheimnisvoll: „Wir steigen schon eher aus.“.
Der Zug hielt, die Türen schoben sich auseinander und Scully betrat den mit gelben Teppich ausgelegten Wagen. Mulder folgte ihr und setzte sich neben sie auf einen der orangefarbenen Sitze. „Eines müssen Sie der Washingtoner Metro lassen, nirgendwo anders sind die Züge so komfortabel.“
Scully seufzte und versuchte sich kleiner zu machen auf dem viel zu engen Sitz. „Die Sitze könnten breiter sein. Oder sind Sie das, Mulder, der sich hier so breit macht?!“
Mulder lächelte. Wahrscheinlich konnte ihm heute nichts die gute Laune verderben, dachte Scully.
Er rutschte ein wenig zur Seite und zog den Mantel enger über seinen Schoß. „Besser so?“
Seine Partnerin begegnete ihm mit einem Blick, der nur allzu deutlich war. „Ich frage mich, was es so Interessantes gibt, das Sie mich nach Feierabend in die Metro schleppen.“
„Sie werden schon sehen!“ antwortete ihr Partner und wie auf ein Stichwort ertönte die blecherne Stimme, die das Schließen der Türen ankündigte: „Doors closing.“
Scully war sich sicher, daß die weiblich Stimme von einem Computer kam, oder wenigstens eine automatische Aufzeichnung war. Sie war zu künstlich, wie alles in diesem Zug, Da war ihr sogar die New Yorker U-Bahn sympathischer, mit all ihrem Schmutz und den lauten wackeligen Zügen.
Dieser Zug schlich leise dahin, so jedenfalls kam es ihr vor. Nur ein kurzer fast unmerklicher Ruck und er hatte sich in Bewegung gesetzt. Jetzt nahm er Fahrt auf und rauschte durch die Betonröhren.
Mulder war neben ihr in ein verklärtes Schmunzeln versunken. Was auch immer es war, das er ihr zeigen wollte, er sollte dafür beten, daß es auch wirklich etwas herausragendes war. Doch insgeheim bezweifelte sie das.
Der Zug passierte gerade Farragut North, wurde langsamer bis er zum Stillstand kam.
„Doors opening“ klang die blecherne Stimme aus den Lautsprechern. Daraufhin schoben sich die Türhälften auseinander und entließen die Passagiere in das triste Grau der Station, die den vielen anderen bis ins Detail glich. Wären nicht die Hinweisschilder würden sich die Menschen vermutlich verirren, überlegte Scully. Als der Zug wieder anfuhr, wurde Mulder unruhig.
„Was ist los, Mulder?“
„An der nächsten müssen wir aussteigen.“ Antwortete er und erhob sich von seinem Sitz.
Scully versuchte sich die Karte der Metro vor Augen zu halten, die sie neben dem Fahrkartenschalter gesehen hatte. Welches war die nächste Station? Ihr frage wurde beantwortet, als sie die Haltestelle erreichten. „Dupont Circel“ prangte in schwarzen Lettern an dem Hinweisschild.
„Dupont Circel?“ fragte sie verwirrt, „Wollen Sie mit mir auf Sight Seeing Tour gehen?“ Denn sie wußte, daß es einige interessante Gebäude in der Nähe gab.
Mulder schüttelte den Kopf und drängte zum Ausgang. Scully folgte ihm willig und froh darüber, daß der Aufenthalt in der Metro nur so kurz gewesen war.
Auf dem Bahnsteig wandte sich ihr Partner nach links und strebte dem Nordausgang zu. Sie eilte ihm nach, mußte jedoch häufig entgegenkommenden ausweichen und holte ihn schließlich erst an der Ausgangssperre ein. Sie schob die Fahrkarte in die Öffnung. Nun würde sich Zeigen, ob Mulder wirklich den korrekten Fahrpreis bezahlt hatte. Es schien OK zu sein, denn die Plexiglasscheiben schoben sich zur Seite und ließen sie gehen. Das Ticket blieb in der Schleuse und Scully fand es bewundernswert, daß sich mal jemand Gedanken darüber gemacht zu haben schien, daß nicht ständig ausgediente Fahrscheine herumlagen.
Mulder wartete bereits auf sie: „Schließen Sie die Augen!“ forderte er sie auf.
„Was?“ Sie traute ihren Ohren nicht.
„Schließen Sie die Augen!“ wiederholte ihr Partner.
„Mulder was soll der Quatsch.“
„Bitte, tun Sie es für mich.“ Es klang übertrieben flehend, aber Scully fügte sich, wenn auch mit einem Seufzen. Mulder nahm Scullys Hand, zog sie sanft vorwärts und sorgte dafür, daß sie die Augen nicht vorzeitig öffnete. Nach etwa zehn Metern blieben sie stehen.
„Kann ich die Augen jetzt wieder aufmachen?“ fragte Scully.
„Ja!“ antwortete Mulder kurz und seine Stimme klang irgendwie verändert - tief beeindruckt, wie Scully fand.
Sie öffnete die Augen und sah zuerst nur eine Rolltreppe vor sich, doch als ihr Blick höher wanderte, das Ende der Treppe suchend, wurde sie genauso von dem Anblick gefesselt wie zuvor Mulder.
Die Rolltreppen verliefen in einer steilen unendlich scheinenden Röhre nach oben, wo sie in einer großzügigen elliptischen Öffnung endeten. Das einzige was man im Moment in der Öffnung sehen konnte, war ein dunkelblauer Abendhimmel an dem die Sterne leuchteten.
Sie trat einen Schritt nach vorn, auf die erste Stufe der Treppe, ohne ihren Blick auch nur andeutungsweise abzuwenden. Sie nahm nicht mal war, das sie noch immer Mulders Hand hielt, der sich neben sie auf die Stufe stellte. „Das ist umwerfend.“ brachte sie leise hervor.
Mulder hatte Recht, als er von der Zukunft sprach, dachte sie. Das war die Zukunft. Sie konnte sie förmlich sehen und würde sie berühren können, wenn sie nur die Hand danach ausstreckte.
Die mit Sternen besetzte Dunkelheit zog sie immer näher heran. Nur ganz tief in ihrem Inneren sagte ihr die Stimme des Verstandes, daß es die Bewegung der Rolltreppe war, die sie der Öffnung näher brachte. Doch sie hörte nicht darauf, als sei in diesem Moment ihr Verstand ausgeschaltet, so schwebte sie langsam den Sternen entgegen und damit der Zukunft. Wichtig schien ihr jetzt nur das Bild, das sie von der Zukunft in sich aufnahm. Es brachte soviel Glück und Hoffnung und es brachte ihr den Glauben. Für den Bruchteil eines Augenblicks sah sie die Welt, wie Mulder sie sah, erkannte die großen und kleinen Zusammenhänge, die keine naturwissenschaftliche Erklärung liefern konnte. Sie begriff was der Glauben für Mulder bedeuten mußte und sie schloß ihre Hand fester um seine. Instinktiv spürte sie seine Blicke auf sich ruhen und wandte sich ihm daraufhin zu. In seinen Augen las sie etwas, daß sie dort noch nie gesehen hatte – Liebe und tiefe Zuneigung. Das gab diesem Moment etwas magisches und verzauberte nicht nur Scully. Aus diesem Blickwinkel hatte sie ihre Beziehung nie betrachtet. Nein, mehr noch, sie hatte es sich nie erlaubt das zu tun. Doch jetzt fühlte es sich wie selbstverständlich an. Es war der Blick in eine Zukunft, die sie gemeinsam verbrachten.
Kühler Wind kam auf und blies Scully eine Haarsträhne ins Gesicht. Überrascht richtete sie ihren Blick nach vorn. Völlig unbemerkt hatten sie das Ende der Rolltreppe erreicht. Nur noch wenige Meter trennten sie von der Trittfläche unter der das Band scheinbar im Nichts verschwand. Diese Meter trennten sie auch von der Realität. Sie sah verwirrt zurück. Wie hatten sie den langen Weg hinter sich gebracht? Es waren mindestens 200 m die die Treppe in die Tiefe reichte. Und sie hatte keinerlei Erinnerungen daran.
Ein kalter Luftzug an ihren Füßen machte sie darauf aufmerksam, daß das Ende der Treppe sehr nahe war. Als sie einen Schritt nach vorn auf festen Boden machte, registrierte sie, daß sie noch immer Mulders Hand hielt. Ihrem Partner schien es ganz ähnlich zu gehen. Auch er, so bemerkte sie, schien aus einem Traum zu erwachen. Doch bevor er etwas sagen konnte, löste sie ihre Hand von der seinen.
„Was war das Mulder?“ fragte sie, obwohl sie ahnte, das auch er es nicht wußte. Sie behielt Recht, denn er zuckte nur ahnungslos mit den Schultern.
Sie sah sich um, betrachtete die Lichter der vorbeifahrenden Autos, die Leuchtreklamen der Geschäfte und die hellerleuchteten Fenster der Wohnungen. Doch tief in ihrem Inneren suchte sie noch immer nach einer Erklärung für das, was ihr soeben widerfahren war. Möglicherweise hatte der atemberaubende Anblick eine psychische Reaktion hervorgerufen. Ein Wunschbild des Unterbewußtseins, das schon lange in ihr schlummerte. „Kommen Sie mit zurück?“ Mulder deutete in die Tiefe.
Scully schüttelte den Kopf. „Nein Danke, ich nehme ein Taxi!“
„Sind sie sicher?“
Sie nickte nur, als Antwort auf Mulders Frage. Einen kurzen Moment streifte sie seine Augen suchte dort nachdem, was sie gesehen hatte, doch es war nicht mehr da. Nur noch eine Spur Traurigkeit schimmerte im Licht der Straßenlampen. „Bis morgen!“ sagte sie und überquerte schnell die Straße, an der die Ampel den Verkehr gerade zum stehen gebracht hatte. Als sie sich auf der anderen Seite noch mal umsah, stand Mulder immer noch an der selben Stelle. Er blickte zu ihr herüber und sah verloren aus, in einer Welt, die ihn nicht zu verstehen schien. Scully war versucht wegzugehen, aber irgend etwas hielt sie auf. Die Erinnerung an die letzten Minuten waren noch zu stark und verwirrend. Ohne weiter darüber nachzudenken, überquerte sie wiederholt die Straße, trat zu dem noch immer wartenden Mulder und sagte: „Kommen Sie! Gehen wir etwas essen, ich lade Sie ein.“
Ihr Partner nickte und schloß sich ihr an. Als sie an der Ampel stehen blieben, meinte er leise: „Ich wußte das Sie zurückkommen würden, Scully!“
Sie hob die Brauen und sah in sein geheimnisvoll lächelndes Gesicht.

Ende